Wie politisch muss die Kinder- und Jugendhilfe heute sein?
Die aktuellen politischen Debatten und Entscheidungen haben erhebliche Auswirkungen auf die Lebenssituation und Zukunft junger Menschen. Eine historische Neuverschuldung zu Lasten der jüngeren Generationen mit massiver Aufrüstung und Diskussion um die Wiedereinführung der Wehrpflicht, die parallele steuerliche Entlastung von Unternehmen und der weitere Abbau des Sozialstaats mit einer rigiden Einwanderungs- und Asylpolitik werfen Fragen der Generationengerechtigkeit auf. Sozial- und jugendpolitische Themen finden in öffentlichen Debatten, zuletzt im Wahlkampf, kaum Beachtung – auch weil junge Menschen demografisch zur Minderheit werden.
Der Fachtag richtet den Fokus auf die massiven strukturellen Probleme in der Kinder- und Jugendhilfe sowie die damit verbundenen Benachteiligungen der Adressat*innen und will mit der Frage nach dem Politischen in der Kinder- und Jugendhilfe mögliche Lösungsansätze aufzeigen. In Vortrag und Workshops wird ausgelotet, welche Auswirkungen die gesellschaftlichen und politischen Veränderungen auf junge Menschen haben, wie politisch Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe eigentlich sein müssen und wie junge Menschen über Angebote der politischen Bildung in der Kinder- und Jugendhilfe politisch gestärkt werden und gesellschaftliche Teilhabe erfahren können. Ziel ist es zu diskutieren, wie die Kinder- und Jugendhilfe empowernd und lobbyierend im Sinne ihrer Adressat*innen wirken kann. Dafür wird auf dem Fachtag zum einen die gelebte Praxis kritisch hinterfragt und solidarisch diskutiert. Zum anderen wird die dringliche Frage gestellt, wie das sozialpolitische Mandat der Kinder- und Jugendhilfe in den aktuellen politischen Debatten sichtbarer werden kann.
Der Zugang ist praxisorientiert und bietet Raum für stärkenden Austausch, Diskurs und Vernetzung.
Programm
10:00 – 10:15 Grußworte
Dr.in Patricia Becher (angefragt)
Dezernentin für Soziales, Bildung und Wohnen der Landeshauptstadt Wiesbaden
Prof.in Dr.in Kathrin Witek
Dekanin des Fachbereichs Sozialwesen der Hochschule RheinMain
10:15 – 11:15 Eröffnungsvortrag:
17. Kinder- und Jugendbericht: Kinder- und Jugendhilfe, eine Infrastruktur für gerechtes Aufwachsen?!
Prof.in Dr.in Davina Höblich
Hochschule RheinMain
11:15 – 11:30 Pause
13:00 – 14:00 Workshop-Phase 1
15:30 – 15:45 Mittagspause in der Mensa im A-Gebäude
14:00 – 15:30 Workshop-Phase 2
15:30 – 15:45 Pause
15:45 – 16:30 Abschlusspanel
16:30 – 17:00 Ausklang und Verabschiedung
Übersicht der Workshopangebote
Workshop I
Soziale Arbeit als politische Bildung: Handlungsräume im Alltag erkennen und für politische Bildungsprozesse nutzbar machen.
Prof.in Dr.in Johanna Sigl | Hochschule RheinMain
Anhand von Fallbeispielen aus der Praxis der Kinder- und Jugendhilfe wollen wir in dem Workshop ins Gespräch darüber kommen, in welchen Formen politische Themen, Veränderungen und politisches Handeln im Alltag sichtbar werden:
Wie lassen sich politische Themen in ihrer Relevanz für die Adressat*innen aufgreifen? Welche Haltung und welches Wissen benötigen Fachkräfte, um den Alltag der Kinder- und Jugendhilfe im Sinne der Adressat*innen zu politisieren? Wie ist die Kinder- und Jugendhilfe gefordert, selbst zu politischen Themen und Entwicklungen Position zu beziehen?
Workshop II
Zwischen Wertevermittlung und Teilhabe:
Politische Bildung in der Kinder- und Jugendhilfe
Klaus Friedrich & Olav Muhl | EVIM gGmbH
Für die EVIM-Jugendhilfe ist politische Bildung kein Zusatzangebot – sie ist Grundbedingung für gelebte Teilhabe. Für uns bedeutet das: Räume schaffen, in denen junge Menschen ihre Stimme erheben, mitgestalten und Demokratie erleben können. Doch politische Bildungsarbeit endet nicht bei den Klient:innen, sie durchdringt alle Ebenen – von der pädagogischen Praxis bis zur Leitungsebene. Mitarbeitende werden befähigt, Haltung zu zeigen, und Führungskräfte tragen Verantwortung für die politische Vertretung nach innen und außen. Es geht um Einfluss nehmen, Position beziehen und Veränderung anstoßen, was wir anhand unterschiedlicher praktischer Methoden und Instrumente wie zum Beispiel Demokratiekoffer, EVIM-Connect-App oder gezielte Mitwirkung in Gremien usw. vorstellen und diskutieren wollen.
Workshop III
Politische Bildung als politische Praxis
Prof.in Dr.in Julika Bürgin | Hochschule Darmstadt
Politische Bildungsarbeit ist keine Prävention. Sie soll Menschen unterstützen, an gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen teilzunehmen und ihre Interessen bewusst und urteilsfähig in den politischen Raum einzubringen. Julika Bürgin zeigt in diesem Workshop, dass politische Bildung untrennbar mit institutioneller Haltung und Praxis verbunden ist: Sie findet nicht nur in Workshops statt, sondern im Alltag der Einrichtungen, in Entscheidungen, in Sprache und Strukturen und eben auch im politischen Handeln der Institutionen selbst.
Gemeinsam wird diskutiert, was es bedeutet, wenn Kinder- und Jugendhilfe sich als politische Akteurin versteht. Wie kann sie lobbyierend im Sinne ihrer Adressat*innen handeln? Was heißt Beteiligung und politische Bildung, wenn sie nicht nur ein Format, sondern eine Haltung ist? Und was bedeutet das sogenannte „Neutralitätsgebot“ vor diesem Hintergrund wirklich? Dürfen, können oder müssen Träger der Kinder- und Jugendhilfe politisch sein?
Workshop IV
Wie funktioniert politische Bildung in der Praxis?
Thure Alting & Benny Momper | Spiegelbild e. V.
Der Workshop gibt einen Einblick in die Praxis politischer Bildung. Dabei geht es sowohl um konkrete Methoden als auch um unterschiedliche Bildungs- und Politikverständnisse. Wie gelingt eine an der Lebenswelt von Jugendlichen orientierte und interessierte Bildung? Wie können wir Räume gestalten, welche Rolle spielen Beziehungen – und wer setzt eigentlich die Themen?
Zentraler Ausgangspunkt aller Überlegungen ist das Verständnis politischer Bildung als selbstgeleiteten Prozess, in dem Jugendliche sich selbst und die Welt aneignen und sich dabei in ein stetig erneuerndes Verhältnis zu ihr setzen. Oder anders ausgedrückt: Politische Bildung bedeutet, eine Sprache für das eigene Erleben zu finden, dieses zu politisieren und so neue Erfahrungs- und Handlungsspielräume zu eröffnen. Wie diese gemeinsame Sprache in der Praxis gefunden werden kann, ist Gegenstand des Workshops.
Workshop V
Als Fachkraft Sozialer Arbeit auf Veränderungen hinwirken – wie, wo und mit wem? Policy Practice als kritische Perspektive und Möglichkeit politischen Engagements in der Kinder- und Jugendhilfe
Prof.in Dr.in Miriam Burzlaff
Fachkräfte der Sozialen Arbeit sind ihrem professionellen Auftrag zufolge sowohl aufgefordert, individuelle Unterstützung zu leisten als auch auf strukturelle Veränderungen hinzuwirken. Gleichzeitig ist Soziale Arbeit in gesellschaftliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse verwoben und bewegt sich stets in Spannungsfeldern. Wie kann es dennoch gelingen, sich im Rahmen der beruflichen Tätigkeit politisch zu engagieren und sich für strukturelle Veränderungen zugunsten von Gerechtigkeit einzusetzen?
Im Rahmen des Workshops werden Wege und Strategien politischen Engagements für Fachkräfte Sozialer Arbeit vorgestellt. Ein besonderer Fokus ist in diesem Zusammenhang auf Policy Practice gerichtet. Ferner wird diskutiert, unter welchen Bedingungen sich Fachkräfte in die Gestaltung von Politiken einmischen können, und es wird Raum für offene Fragen sowie (Erfahrungs-)Austausch geben.
Prof. Dr. Miriam Burzlaff versteht Policy Practice nicht als reines „Instrument der Veränderung“, sondern als eine Perspektive der Gegenmacht und gerechtigkeitsorientierte Praxis, in deren Zentrum die Analyse und Kritik bestehender Macht- und Herrschaftsverhältnisse stehen.
Veranstaltende:
EVIM gGmbH – Jugendhilfe, Hochschule RheinMain, Spiegelbild –
politische Bildung aus Wiesbaden e.V.